Das Metaverse ist längst da, ich hab's in meinem Wohnzimmer gesehen
Das Metaverse ist der heißeste Tech-Trend seit Microblogging, faltbaren Smartphones und dem Nintendo Virtual Boy. Is' echt so, alle sagen das. Ich meine, würde Facebook sonst so 'ne krasse Kampagne fahren, wie sie es gerade tun?
Gut, ich gehöre zu den vielen die was anderes sagen. Ich hab das Metaverse selbst mal mehr oder weniger als Quatsch bezeichnet, zumindest aus wirtschaftlicher Sicht. Und zumindest, wenn es beim Metaverse um eine Vision von virtueller Realität geht, die zwischen visionslosem Spielplatz für Investoren und dystopischem Internet-Arbeitsplatz für Milliardärependelt.
Dieses "Metaverse" wie Meta es in seiner neuen Imagekampagne als die Zukunft von irgendwie allem bewirbt, ist dann schon irgendwie Quatsch, vor allem, weil es schon längst ein Metaverse gibt und mit einer etwa 30-prozentigen Chanceauch schon auf deinem Phone läuft.
Dieses Metaverse ist nicht V(irtual), sondern A(ugmented) Reality. Dieses Metaverse ist nicht ein teures Headset, mit dem ich mein echtes Büro in ein unechtes Büro mit mehr Monitoren verwandle. Dieses Metaverse ist ein ziemlich praktisches Maßband oder ein ganz netter Fotofilter. Nützliche Dinge halt.
Jetzt kommt endlich die Geschichte mit meinem Maßband und dem Metaverse im Wohnzimmer...
Entdeckt habe ich das Metaverse bei der Besichtigung meiner neuen Wohnung. Es versteckte sich in der Maßband-App auf meinem iPhone. Smartphone-Kamera auf eine Ecke zeigen, tap, Punkt setzen, rumlaufen, messen, tap, und plötzlich ist es kein ganz so großes Problem mehr, dass die Maklerin keinen Grundriss dabei hat, zeichne ich mir eben selber einen.
Kaum hab ich die Zusage bekommen, steh ich vor dem nächsten Problem: Kommt das Sofa mitten in den Raum oder sieht das total scheiße aus? Um der Fantasie auf die Sprünge zu helfen, zeichne ich das Sofa einfach auf einem Foto ein.
Etwas weniger hässlich geht's mit der Ikea-App Places. Jetzt muss ich mir theoretische Situation nicht mehr vor-, sondern kann sie einfach aufstellen. Sofa hier, Lowboard da, Bett, Schrank, in etwa den korrekten Maßen an etwa den korrekten Stellen aus dem Produktkatalog.
Das hat im Gegensatz zum bekritzelten Foto den Vorteil, dass ich in Echtzeit durch das Smartphonedisplay in diese theoretisch schon eingerichtete Wohnung gucken kann. In diesem Metaverse gibt's keine Lieferzeiten von 1-2 Wochen für Sitzmöbel.
Und wenn ich um die mitten im Raum platzierte Couch herumtänzle, ganz instinktiv, und direkt ein Gefühl dafür habe, dass ein Möbel dieser Größe an der Stelle wohl doch eher unpraktisch sein würde, ist das als Entscheidungshilfe schon real genug.
Wir plädieren für eine andere Interpretation des Metaversums. Ich glaube, einige Leute stellen sich als Metaversum ein 3D-Videospiel wie Roblox, Fortnite oder Ultima Online vor. Das ist einfach eine 3D-Umgebung, die man über einen Computer oder eine VR-Brille spielt. Ich glaube, diese Faszination wuchs während Covid, weil alle drinnen gefangen und von Zoom gelangweilt waren.
Unmittelbar vor Covid drehte sich alles um unsere mobilen Geräte. Wenn man die in die Tasche steckt, wenn man in die U-Bahn steigt oder das Fahrrad nimmt, dann ist man immer bei seinen Freunden. Und natürlich kann man ein Taxi rufen oder ein Restaurant reservieren, man kann Google Maps nutzen, man kann all diese Dinge mit dem Telefon erledigen, aber es ist kein Ersatz für das echte Leben.
Einige Leute haben sich mitreißen lassen und angefangen zu glauben, dass dies die Zukunft ist, dass wir zu Hause bleiben werden, nur noch vor dem Bildschirm sitzen und in diese 3D-Umgebungen gehen werden, um dort den ganzen Tag zu arbeiten oder zu spielen. Und ich denke, das ist einfach falsch.
Das sagte Niantic-Chef John Hanke bei einem Gespräch über Pokemon Go. Seine Firma hat vermutlich mehr für die Verbreitung des Metaverse getan hat als Meta. Für Hanke ist das Metaverse der Bildschirme und Bildschirme direkt vor den Augen (VR-Headsets) eher ein Albtraum. Er will, dass wir unsere Geräte benutzen, um uns draußen zu verabreden und sie dann weglegen – nicht andersrum.
Mich hat er damals überzeugen können, theoretisch, und praktisch hat es nun auch ein Maßband, die schwedische Möbel-App, Gekritzel auf dem Smartphonedisplay. Eine Wohnung, ob jetzt mit oder ohne Sofa, ist halt irgendwie wichtiger als Horizon Worlds, Decentraland und Roblox.
Ein abschließendes, aber vages Plädoyer im Stil von Blogposts der frühen 2000er-Jahre:
"Explore endless possibilities as two dimensions become three", sagt Meta. Wie wär's, wenn ihr die technologischen Moonshots der Nasa oder SpaceX überlassen würdet und banale Tech-Konzerne wieder banale Tech für banale Alltage machen.
AR durchläuft ähnliche Hypecycles wie VR. Schon 2009 schrieb der Economist im Artikel "Reality, improved", dass Dank der Verbreitung von Smartphones Augmented Reality "weitaus zugänglicher – und nützlicher" sein wird, als virtuelle Realitäten. Und irgendwann seit dem ist das halt wahr geworden.
Nur irgendwie merken wir das nicht mal mehr, weil's halt so nützlich ist, Google Maps mit Fahrradroutenliveansage auf dem kabellosen Kopfhörer als digitalen Layer auf der echten Welt zu haben oder mal schnell mit dem Handy die Küche zu vermessen. Ist nur eben so nützlich, dass die Technologie so unsichtbar wird, wie Technologie das bestenfalls sein sollte – und nicht das Einzige, was wir noch sehen.
Vorhersage: Mark Zuckerbergs öde neue Arbeitswelt und die virtuellen Immobilienblasen der Web3-Experimente werden wieder verschwinden. Wunsch: AR bleibt. Weil es keine Zukunft losgelöst von unserer Realität verspricht. Sondern in der Gegenwart Kleinigkeiten besser macht. Und wenn's nur ein Maßband ist.
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