Ich bin das Arschloch das Bambis Mutter erschossen hat
Die Sonne beginnt gerade hinter den aufziehenden Wolken zu verschwinden, als ich auf der Lichtung eine Hirschkuh erblicke. Es ist das erste Tier, das mir an diesem Tag begegnet. Aus der Ferne mache ich einen Schnappschuss mit meiner billigen Digitalkamera, aber die Distanz ist zu groß für ein gutes Bild. Noch hat die Hirschkuh mich nicht entdeckt, also schleiche ich vorsichtig einen Hügel hinauf, um eine bessere Sicht auf das scheue Tier zu bekommen.
Auf den ersten Blick sieht theHunter Classic aus wie jeder andere Ego-Shooter, die Waffe im Anschlag, allzeit bereit zu ballern. Nur, dass es nichts zum Draufballern gibt, wenn ich wie die Axt durch den Wald holze. Seit dem Überraschungserfolg von Deer Hunter Ende der Neunzigerjahre haben sich Spiele wie theHunter eine Nische auf dem Videospielmarkt erkämpft – auch, wenn den Authentizität vortäuschenden Jagdsimulationen immer noch der Muff der "Killerspiel"-Debatte anhängt.
Ethisch und verantwortungsvoll
Wenn sich in theHunter in der Ferne etwas über die Lichtung bewegt, ist das kein bis an die Zähne bewaffneter menschlicher Gegner wie in Battle-Royale-Games, sondern ein Kaninchen, ein Wildschwein oder in diesem Fall eben ein Weißwedelhirsch. Mittlerweile habe ich statt der Kamera ein Gewehr im Anschlag und lege mich vorsichtig in das Gestrüpp am Hang. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Hirschkuh etwas ahnt. Falls es so ist, kommt es zu spät. Ich atme ein und versuche das Fadenkreuz ruhig zu halten. Als die Kugel ihren Kopf streift, zuckt sie kurz zusammen, dreht sich aber sofort um und flieht verwundet über den Hang.
"Deshalb ist es wichtig, handwerklich sauber zu jagen", sagt Elisabeth Emmert. Sie ist Mitgründerin und Vorsitzende des Ökologischen Jagdverbands ÖJV. Der setzt sich seit den späten Achtzigerjahren für eine Reformation der Jagd ein. Denn darüber, welches Wild wann und wie gejagt werden kann und sollte, herrscht selbst unter Jägern Uneinigkeit. Die Ökojagd stellt den Schutz des vom Rotwild verbissenen Waldes in den Vordergrund. Das Töten allein für Trophäen widerspricht Emmerts Verständnis einer verantwortungsvollen Jagd. Erlaubt ist sie im Rahmen des Jagdrechts trotzdem.
Auch wenn theHunter sich bei seinen Missionszielen nicht zwischen Sportjagd und Wildhüterei entscheiden kann, ist die Jagd kein reiner Adrenalintrip. Sie hält sich auch im Spiel an eine eigene Ethik. Bei der Bewertung eines Abschusses wird penibel darauf geachtet, ob die richtige Waffe für das richtige Tier verwendet wurde und ob ich sichergestellt habe, es möglichst kurz leiden zu lassen. Ich darf nicht wahllos jedes Tier erschießen, sondern benötige die richtige (mit echtem Geld kaufbare) Lizenz. Weißhirsche darf ich diese Woche kostenlos jagen.
1:58,7 Minuten
Mittlerweile hat es angefangen zu regnen. Die Spur aus panisch in den Boden getretenen Hufabdrücken und Blutlachen habe ich schon lange verloren. Mit der Nase eines ausgebildeten Jagdhundes wäre das sicher nicht passiert. So irre ich ziellos über die offenen Wiesen. Als ich gerade aufgeben und den Weg zurück zum Lager suchen will, liegt die Hirschkuh plötzlich regungslos vor mir. Vielleicht ist es der dunkelgraue Himmel, vielleicht die Tatsache, dass ich den Fund eher dem Zufall als gekonntem Spurenlesen zu verdanken habe. Wie ein Erfolg kommt mir das Ende meiner Jagd jedenfalls nicht vor.
Fast zwei Minuten hat die Hirschkuh nach meinem Treffer noch gelebt. In meinem Kopf male ich mir diese zwei Minuten aus. Und auch wenn ich weiß, dass sie natürlich genauso wenig real waren, wie die tausend toten Soldaten in anderen Spielen, läuft mein Kopfkino dennoch Amok.
Ich frage mich aber auch, was ich falsch gemacht habe. Es war ein sauberer Kopfschuss, da bin ich mir sicher, und wenn ich in Videospielen eine Sache gelernt habe, dann, dass ein Kopfschuss immer ein Volltreffer ist.
"Wenn man den Kopf treffen würde, wäre das Tier gleich tot", erklärt mir Elisabeth Emmert. "Aber man trifft eben schlechter, weil es so ein kleines Ziel ist."
Das Tödliche bei einem Kopfschuss ist die Verletzung des Gehirns. Das nimmt im Kopf eines Rehs weniger Platz ein als bei einem Menschen. Was dem Gamer der Kopfschuss, ist dem Jäger der Blattschuss. "Das kommt vom Schulterblatt", erläutert Emmert. "Man schießt seitlich auf den vorderen Brustkorb, da liegen Lunge und Herz." Ein Treffer dort ist die sichere Variante und in der Regel sofort tödlich.
Breath of the Violence
Es ist nicht so, dass mir Gewalt in Videospielen nahegehen würde - ich habe schon ganze Bataillone ohne Skrupel niedergeschossen. Dieses tote Tier vor mir liegen zu sehen, fühlt sich anders an. Der kurze Aufschrei, der sich mit dem Knall meines Gewehrs vermischt hat, hallt in meinem Kopf nach, bilde ich mir zumindest ein.
theHunter ist ein gewalttätiges Spiel, so wie jeder andere Shooter auch, aber es zelebriert diese Gewalt nicht. Ich ballere nicht einem Nazi die Eier weg. Aber ich erfülle auch keine försterlichen Pflichten, ich halte nicht den Wildbestand im Zaum. Ich jage, weil mir langweilig ist.
"Die Verantwortung, die man für das Tier hat, das man erlegt, die muss einem bewusst sein", betont Elisabeth Emmert. Die Jagd zum bloßen Spaß lehnt sie ab. "Es gibt sicher Kritik an der Jagd und die teilen wir im Ökologischen Jagdverband zum Teil auch. Die Trophäenzentriertheit etwa." Sie sieht ihre Aufgabe darin, Wild und Wald in Einklang zu bringen, und die Jagd als ein Mittel, dieses Gleichgewicht herzustellen. Dabei geht es nicht unbedingt darum, weniger Tiere zu erlegen, sondern um die Gründe dafür. "Wir achten auf ein ausgewogenes Verhältnis der gesamten Lebensgemeinschaft des Waldes."
Eine Trophäe kann ich nach meiner ersten virtuellen Jagd nicht verbuchen - weibliche Rehe tragen kein Geweih. In der Ferne röhrt ein Hirsch. Ich blicke durch mein Fernglas und beobachte ihn noch einige Minuten, bevor er hinter dem Hang verschwindet. Es ist niemand mehr da, der auf seine Rufe antworten könnte. Die Sonne bahnt sich ihren Weg zurück durch die Wolken. Am Horizont strahlt ein Regenbogen. Das Spiel gibt mir null Punkte.
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